Teil 1. Bildserie mit Text

Teil 2. Textpassagen

Teil 3. Heeresberichte


 

Eine Armee meutert

Schicksalstage Frankreich 1917

Eine Armee meutert

Schicksalstage in Frankreich 1917

Ein Bericht von P. C. Ettighoffer

Verlag E. Bertelsmann Gütersloh

 

Der Verfasser ist bei seinen Studien zur Quellenkunde des Themas Herrn Dr. Rolf Bathe zu besonderem Dank verpflichtet.

15. Auflage

Deutsches Schicksal heißt Kampf - nicht Zufal

Das Ereignis einer Nacht an der Lassaur – Ecke!
(erstes Kapitel)

In jener Frühsommernacht des Jahres 1917 war höchste Alarmbereitschaft befohlen. Das 2. Bataillon R.I.B. 258 lag in vorderster Linie auf dem schmalen Rücken des sogenannten Affenberges. Hier waren die Franzosen stellenweise, im Verlauf der Nivellschen Offensive vom 16. April bis Ende Mai, in das deutsche Verteidigungssystem an der Lassaur – Ecke gedrungen und hatten Teile der Siegfriedlinie besetzt. Hart und zielbewußt durchgeführte Sturmangriffe der drei Infanterieregimenter, die unserer erprobten Division angehörten, hatten das Gleichgewicht in diesem Frontabschnitt wiederhergestellt und an Juni den Gegner in die Verteidigung gezwungen. Das Artilleriefeuer riß selten ab. Die Fliegertätigkeit war stark. Und oft vergasten die Franzosen unsere Anmarschwege, die alle durch tiefe Schluchten führten. Eine äußerst unruhige Stellung.
Der einzige Zugang zur vordersten Linie war ein schmaler Kabelgraben, auf den immer wieder rücksichtslose Feuerüberfälle prasselten. Tagsüber, mit Hilfe des gut getarnten Grabenspiegels, war uns vom vordersten Kampfgraben aus ein herrlicher Blick über den Damenweg möglich. Der Affenberg liegt ja am westlichen Ende dieses vielumkämpften Höhenweges. Aber nur wenige meiner Kameraden haben je mit Genuß durch den Grabenspiegel geschaut, denn jene Landschaft barg damals nur Tod, Grauen und Vernichtung.
Ich war Führer vom Trägerzug des II. Bataillons. …
Wir schleppten die Verwundeten zurück, brachten Lebensmittel, Munition und Post nach vorne, beförderten in schweren Lasten wuchtige Stollenbretter, Schanzzeug, Sandsäcke und Minen. Streckenweise ging's im Laufschritt von Schlucht zu Schlucht, wenn es galt, dem ständigen Störungsfeuer auszuweichen. …
Vom Wachdienst waren wir befreit. Wir lagen nachts hinter der vordersten Linie am oberen inneren Rande der Klaraschlucht in zwei engen feuchten Stollen, die bei jedem Granateinschlag bedenklich wankten. Unsere Trägertätigkeit war meist bei Einbruch der Dunkelheit beendet. Dann lagen die Schluchten unter solch schwerem Feuer, daß ein Durchkommen nur mit großen Verlusten möglich war. Tagsüber konnte man schon eher der Gefahr in der Feuerwalze ausweichen, aber nachts war der Sperrfeuergürtel oft undurchdringlich. Bei Verdun hatten die Feldgrauen auch die Schluchten gefürchtet, aber dort waren die Mulden wenigstens weiter und viel flacher. Hier dagegen an der wilden Lassaur – Ecke, stiegen alle Hänge kurz und steil empor. Jede schwere Granate, die auf dem Grund einer solch engen Schlucht zerschellte, hatte eine vielfache Wirkung. …

So war die tatsächliche Lage in jener Frühsommernacht, da wir alarmiert wurden.
„Der Feind soll, wie es heißt, seine Stellungen uns gegenüber heute besonders stark besetzt haben.“ ..
Wir schnallten um, legten die Handgranaten griffbereit, taten die Gasmaskenbüchse vor die Brust. In der pechschwarzen Finsternis der beiden Stollen war es minutenlang ein raunendes Tasten und Suchen, untermischt mit kräftigen Soldatenflüchen. …
Um 2 Uhr in der Frühe verließ ich den Stollen, wollte zum Bataillons – Gefechtsstand; dort etwas neues über die Lage und dem vermuteten Angriff erfahren. Als ich den dumpfen Stollen verließ und in die frische Frühsommernacht trat, fuhr mich die kalte und würzige Luft an wie ein Hieb. Ringsum duftete die von Granaten durchwühlte und tausendfach aufgebrochene Erde. …
Nicht lange genoß ich die Stille der Nacht. Vorne aus dem etwa 200 Meter entfernten Kampfgraben zischte eine Leuchtkugel. Und auf französischer Seite waren es jetzt schon zwei, drei Leuchtfallschirme. Und so begann der Tanz --- Zuerst schoß langanhaltend ein französisches Maschinengewehr. Die kupfernen Spitzgeschosse peitschten alle über die Böschungen hinweg und pochten als dumpfe oder helle Hammerschläge gegen die sterbenden Baumstümpfe der Klaraschlucht. Jetzt setzt ein zweites, ein drittes Maschinengewehr ein, und dann kam elementar der Orkan aus Rohren aller Kaliber.
Es zischte, heulte und gurgelte, es tobte und spritzte und spie, es sang, johlte und brüllte. Die Hölle war los. War das der erwartete französische Angriff? Laufend und stürzend, kriechend und von Granatloch zu Granatloch springend, erreichte ich wieder die beiden Stollen, wo der Trägerzug fix und fertig zum Eingreifen bereitstand. …
Um 2 Uhr 20 war wieder alles ruhig. Im Osten kündete sich schon der Tag an. Die Front schwieg. Bis zur halben Höhe war die Klaraschlucht mit Gas- und Geschoßqualm gefüllt. An langen weißen Schwaden zog der chemische Nebel an der zertrümmerten Kleinbahn entlang. …

Und da sah ich vier deutsche Soldaten hastig und rückwärts zum Pinon – Riegel streben. Mit Bedacht vermieden sie die gasgefüllte Tiefe der Klaraschlucht, hielten sich oben am Höhenrand, der noch nicht voll und ganz vom Feind eingesehen werden konnte. In 50 Meter Entfernung etwa mußten sie an unserer Unterstandsgruppe vorbei. Ich sah sie daherkommen, völlig zerissen die Uniformen, de Gesichter von krankhafter Blässe, die Augen dunkel unterschattet. …
Waffen hatten sie keine bei sich, auch kein Koppel: Nicht einmal die unentbehrliche Gasmaske trugen sie auf der Brust. Beim näheren Hinschauen merkte ich, daß ihre Uniformen mit heller Farbe beschmiert waren. Auf Brust und Rücken las ich die Buchstaben P. G.
Das waren doch --- das waren Kriegsgefangene, deutsche Kameraden, die von drüben kamen, ohne Zweifel geflohen über die Front hinweg. …

Wir, die Feldgrauen, achten Poilus und Tommies in ihren opferwilligen Einsatz. Und wir wissen ganz genau, daß heute die hohen Leistungen unseres feldgrauen Heeres auch bei seinen ehemaligen Gegnern anerkannt werden. ..

Weitere Kapitel. Teilweise mit damals aktuellen Heeresberichten (in Teil 3 dieser Dokumentation niedergeschrieben)

- Verdun oder die Somme?
- Jossre und Nivelle stellen Pläne auf
- Der neue Oberbefehlshaber handelt
- Am zweiten Tag: „Einmarsch in Laon“
- Die Heeresgruppe Kronprinz Ruprecht von Bayern rüstet die Verteidigung!
- Der Fang auf Höhe 185
- „Unternehmen Albrecht“ steigt
- Letzte Vorbereitungen zur Schlacht
- Die Nivellesche Schlacht
- Ein Heldenlied für die andere Seite
- Die Stunde ist gekommen
- Der Zusammenbruch beginnt
- Letzte Hoffnungen – Letzte Schläge
- „Truppen aller deutschen Stämme“
- Die Erkenntnis: „On ne les aura pas …!“ („Wir haben nicht …!“)
- Der Poilu marschiert nicht mehr
- Paris, das „rote Tuch“ für die Front
- Die Schwarzen Tage für Frankreich
- Wenn die Deutschen jetzt angreifen …
- Sieg der Pflicht – deutsche Tragik
- Das Material rollt

Vorbei …!

Versunken im Schoß der Vergangenheit die wilden und tragischen Tage und Wochen am Damenweg, Tragisch waren sie für Frankreich, weil sie die Nation an den Rand des Abgrundes gebracht hatten, tragisch für Deutschland, weil die Gelegenheit, den Krieg rasch und vielleicht mühelos zu beenden, durch einen Vorstoß, der diese ganze morsche Feindfront zerschlagen hätte, von uns nicht erkannt und nicht genutzt wurde.
„Erst später sahen wir klar,“ schreibt Ludendorff in seien Kriegserinnerungen.

Das Schicksal lud ein schweres Los auf unsere Schultern. Und wir, die Feldgrauen, wir nahmen dies eherne und männliche kämpfenmüssen an und schritten die lange Straße des Krieges, wissend, ernst und hart.
General Nivelle, den tragischen Feldherren der Gegenseite, trafen wir nicht mehr. Er blieb verschwunden und für den westlichen Kriegsschauplatz vergessen. Nur seine Feuerwalze, das systematische Abklopfen einer Landschaft mit Feuer, Rauch und Explosionen blieb zurück. Und der rücksichtslose Einsatz vieler Kräfte und vieler Mächte zum Niederringen der Deutschen, dies blieb alles zurück.
Den grimmigen Mangin sollten wir erst später, in den tragischen Herbstwochen von 1918, noch einmal kennenlernen.  Ihm, dem hartschädeligen Lothringer, bleib es vergönnt, seine Schwarzen doch noch an den Rhein zu führen und somit Rache für die Panik vom 16. April zu nehmen.

Vorbei die Wochen der aussichtslosen Angriffe am Damenweg! Niedergelegt vorläufig jeder Durchbruchsgedanke. Warum auch Durchbruch?  Warum jetzt noch eilen und hasten? Jetzt muß die Zeit für Frankreich und für die Alliierten arbeiten. Keinen Sinn mehr, den Kampf rasch beenden zu wollen, nein, er soll dauern, er soll Deutschland noch mehr zermürben. Frankreich kann warten; denn Amerika kommt!

Jede weitere Kriegswoche läßt die Lebensmittel in Deutschland mehr und mehr hinschwinden.
Jede weitere Woche bringt neue Materialschiffe aus Amerika, aus allen Ländern und Kontinenten nach Frankreich.

Von Tag zu Tag schwinden die deutschen Reserven. Die Neunzehnjährigen rücken ins Feld, halb ausgebildet, schlecht ernährt. Bald wird die ausgepumpte, arm gewordene Heimat nichts mehr hergeben können, weder Menschen noch Material.
Von Tag zu Tag ströhmen sie drüben in den USA zu den Fahnen, alles junge, kräftige, gesunde, über ernährte Menschen, wie bei uns im Jahr 14. Hunderttausende melden sich als Freiwillige für diesen Krieg, den sie in jungenhaftem Leichtsinn als „lächerliche Sportangelegenheit“ bezeichnen.

Von Monat zu Monat wird das deutsche Material schlechter, geringer. Die Geschützrohre sind ausgeleiert, verschlissen. Trotz größter Opferbereitschaft können die Waffen- und Munitionsfabriken mit dem Verbrauch kaum noch Schritt halten. Und dabei wird der Tag kommen, an dem Rohstoffmangel selbst für Geschützrohre und Granaten eintreten muß.
Von Monat zu Monat steigern die amerikanischen Munitionsfabriken ihre Erzeugung. Rekordziffern werden aufgestellt und am Ende des nächsten Monats schon wieder weit überboten.
Rohstoffmangel? Unbefriedigter Bedarf? - Bah, was ist das!

Hunger peinigt die deutsche Heimat, Hunger peinigt die deutsche Front. Mit den geringen, fast fettlosen und kalorienarmen Portionen der Feldgrauen könnte keiner der an gutes Essen gewöhnten Soldaten der Alliierten durchhalten geschweige denn kämpfen. Deutsches Soldatenbrot, unansehnlich und kraftlos geworden, bildet beim Feind einen Gegenstand des billigen Witzes. Und doch, es wird noch kraftloser, noch unansehnlicher im Laufe der kommenden Wochen und Monate, das armselige deutsche Brot.
Hunger? --Was ist das? Was wissen die satten Soldaten der USA von Hunger und Entbehrungen? Bei ihnen wird ein deutsches Kartoffelmehlbrot mit einem Wagen voll Weizen aufgewogen, mit zwei Wagen voll Weizen wenn es sein muß.
Fett? – Lächerlich, mit Fett heizt man die Feldküchen. Jawohl, die „Küchenbullen“ der amerikanischen Kompanien werfen faustgroße Fettklumpen in die Glut, um sie zu entfachen. Fett?! Der amerikanische Soldat hat alles, hat Fleisch, Brot, Genußmittel in Hülle und Fülle.
Für jede fettarme deutsche Fleischkonserve da drüben eine ganze Tonne argentinisches Gefrierfleisch! Nein, der Soldat unter den Fahnen der Alliierten braucht nicht zu darben.
Für jede deutsche Granate hundert, tausend, zehntausend feindliche Granaten, wenn es sein muß.
„Man wird sie endlich kriegen, endlich!“
„Mit Material wird man sie niederzwingen.“
„Unter der Übermacht erdrücken.“
„Aber man wird sie kriegen!“
Jeder Tag arbeitet jetzt für Frankreich und seine Alliierten. Keine Eile mehr nötig! Kein Durchbruch mehr erforderlich! Eines Tages wird Deutschland am Ende sein. Eines Tages – das rechnen sie kühl und sachlich aus – wird das letzte deutsche Rekrutendepot leer sein - - keine Menschen mehr da.
Und dann wird Amerika zwei Millionen frischer Soldaten in Europa stehen haben. Und es werden zwei Millionen Soldaten auf den Abtransport nach Europa warten, auch drei Millionen, wenn es sein muß. Spielt keine Rolle. Menschen spielen keine Rolle und auch das Material spielt keine Rolle ---
Nein, Frankreich braucht vorläufig keine großangelegte Schlacht mehr. Nur noch warten können muß Frankreich, warten. Die Zeit arbeitet und arbeitet haarscharf. Und arbeitet genau so, wie es die nüchternen Rechner erwartet haben.
Der Feldgraue indessen kämpft!
Der Feldgraue ist das geduldigste, opferbereiteste und zäheste Wesen in dieser Hölle von Tod und Vernichtung.
Der Feldgraue ist Sieger über Tod und Teufel.

Abgeblasen die Durchbruchsschlacht, aber der tägliche, aufreibende Zermürbungskrieg geht weiter:
„Wieder steigert sich die Kampftätigkeit an der flandrischen Front,“ meldet der deutsche Heeresbericht.
Und weiter:
„An mehreren Stellen der Artois – Front kam es zu heftigen Kämpfen, – Längs der Aisne und im Westteil der Champagne nahm die Artillerietätigkeit erheblich zu blieb an vielen Stellen auch im Laufe der Nacht lebhaft. –
An der Aisne – Front schwoll das Feuer zeitweise zu erheblicher Stärke an ---
In Flandern war der Artilleriekampf südöstlich von Ypern und nördlich von Armentieres stark –
Von neuem versuchten die Franzosen, die ihnen kürzlich entrissenen Gräben bei der Hurtebise – Ferme wiederzugewinnen -
Längs der Aisne auflebendes Geschützfeuer –
Bei Bauraillon, nördlich von Soissons, stürmten gestern, nach kurzer, starker Minenwerfervorbereitung, Kompanien einiger aus Rheinländern, Hannoveranern und Braunschweigern bestehenden Regimenter die französische Stellung in 1 500 Meter Breite. Der durch bewährte Sturmtrupps, Artillerie und Flieger gut unterstützte Einbruch in die feindliche Linie erfolgte für den Gegner völlig überraschend; einzelne Stosstruppen drangen durch die Annäherungswege bis zu den Reserven vor und machten auch dort Gefangene. Die blutigen Verluste des Feindes sind schwer; über 160 Gefangene und 16 Maschinengewehre wurden zurückgebracht, einige Minenwerfer gesprengt. In den gewonnenen Gräben sind tagsüber heftige Gegenangriffe der Franzosen abgewehrt worden.“*)

*) Dieser Heeresbericht betrifft einen kühnen Vorstoß, den Teile des Reserve – Infanterieregimentes 258, dem der Verfasser vorliegenden Berichtes abgehörte, zusammen mit Teilen des Schwesterregimentes 259 und dem Sturmbataillon 7 am 20. Juni durchführten. Das Minenfeuer dauerte damals nur drei Minuten, war aber von nie vorher gehörter Wucht und Gewalt.

 

 

Diese drei aus französischer Kriegsgefangenschaft entflohenen Feldgrauen kamen in jener Frühsommernacht 1917 an der Lassaur - Ecke über unsere Linien zurück und brachten seltsame Nachricht von drüben mit.

In jener seltsamen Frühsommernacht,

während höchste Alarmbereitschaft befohlen war – oben auf dem Affenberg, in der windigen Lassaur – Ecke, wo das Feuer fast nie abriß -, kamen drei Rückläufer, drei aus französischer Gefangenschaft geflohene Feldgraue und erzählten vom müden Heer da drüben.
Und ihre Worte, um die sich damals sehr bald ein Mythos spann, wurden zum Anstoß für diesen Bericht.
Der Krieg aber schritt, nach jener Nacht, weiterhin seinen unerbittlichen Weg, noch 500 Tage und 500 Nächte. ---

Teil 1.

Teil 3.

 

Getippt und Fotos: Axel (Privat Archiv)
© Team Bunkersachsen 2014

 

 

 

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